Neige, HERR, dein Ohr und höre! Öffne, HERR, deine Augen und sieh her!
2 Kön 19,16
„Weißt du was merkwürdig ist?“ fragt die Freundin meiner Mutter. „Ich kann einfach nicht mehr beten.“ Wir sitzen in der kleinen engen Küche meiner Mutter und ihre Hand spielt gedankenverloren an der Kaffeetasse. Die ganze Familie war schwer getroffen, als die Geburt ihrer Enkelzwillinge so schwer verlief, dass das kleine Mädchen lange zwischen Tod und Leben schwebte. Inzwischen sind die Kinder zuhause, aber nichts wird so sein, wie alle hofften. Das kleine Mädchen hat schwere Schädigungen davon getragen. „Ich konnte immer beten“, fährt sie fort. „Ich habe sogar Gebete geschrieben, für andere.“
Ich nickte. „Ja ich weiß“, sage ich und lächle. „Du hast mir sogar mal eins geschenkt als ich klein war. Das habe ich dann auswendig gelernt.“ „Es hat mich immer irgendwie beruhigt“, sagt sie, „die Menschen um mich herum unserem Gott anzuvertrauen und meine Sorgen loszulassen. Jetzt finde ich einfach nicht mehr die Worte dafür. Ich fühle mich richtig von Gott abgeschnitten.“
„Du und deine Familie haben gerade so viel durchgemacht“, sagt meine Mutter, „vielleicht musst du das erst einmal sacken lassen.“ „Stimmt schon.“ antwortet sie. „Gerade geht mir noch so viel durch den Kopf und gleichzeitig bin ich so müde. Aber schlafen kann ich auch nicht richtig und wenn, dann habe ich ganz wirre Träume.“
Nun schaut sie mich entschlossen an und fast ein bisschen trotzig sagt sie: „Vielleicht müssen ja jetzt mal andere für mich beten.“ „Ja“, füge ich hinzu, „und auch an deiner Stelle.“ Wir schauen schweigend auf unsere Kaffeetassen. Dann spricht sie in die Stille hinein: „Das Gebet hört nicht einfach auf, nur weil ich gerade nicht die Worte finden kann.“ „Andere beten für dich und euch alle“, sage ich.„Meine Schwester“, antwortet sie, „und mein Sohn. Und Menschen aus der Gemeinde. Und ihr doch auch, oder?“ Ein hoffnungsvolles Lächeln umspielt ihre Tränen. „Natürlich“, erwidern wir fast zeitgleich und lachen befreit.
„Ab und zu habe ich doch schon gebetet, es versucht“, meint sie dann und schaut auf ihre Hände. „mit geliehenen Worten, vor langer Zeit gelernten Worten.
“Ich sehe sie erstaunt an. „Na, das Vaterunser“, sagt sie, „manchmal abends vor dem Schlafengehen.“ „Und auch Kindergebete, die mir so in den Sinn kommen. Müde bin ich geh zur Ruh…“ Meine Mutter lächelt mich an. „Vater lass die Augen dein, über meinem Bette sein…“, spreche ich fast automatisch. So viele Abende haben meine Mutter und ich das gemeinsam gesprochen.
„Es ist gut, diesen Schatz aus der Kindheit zu haben. In diese Worte können wir dann doch alles legen, was uns auf der Seele liegt. Gott versteht das.“Gedankenversunken schauen wir drei in unsere Kaffeetassen.
Bleiben Sie behütet,
Ihre Pfarrerin Sarah Zeppin